Mir geht dieses Wort richtig auf die Nerven. Was soll das sein?
Okay, lateinisch: post=hinter/nach, factum=das Geschehene/Getane, könnte somit
hinterm Geschehen (zurückgeblieben?) oder nach dem Getanen (Auspannen?) bedeuten.
Benutzt wird es aber als Totschlagargument im Sinne von: ignorant oder sogar
verlogen. Postfaktiker sind somit ahnungslose Spinner, die bewusst die, für
alle anderen sichtbaren Tatsachen leugnen. Solche Leute kann man nicht ernst
nehmen und schlimmstenfalls zerstören sie unsere Demokratie. Ist das so?
Was ist mit den Tatsachen? Existieren die schon seit dem
Urknall (den es postfaktisch vielleicht gar nicht gab), und falls nicht, wo kommen
sie her? Irgendjemand oder –etwas hat sie gemacht bzw. festgestellt (tun+Sache).
Nun gibt es sie, aber sind sie deswegen auch a) richtig und b) wichtig? Zu
Galileos Zeiten drehte sich die Sonne um die Erde, so sicher wie das Amen in
der Kirche, eine Fakt, den er allerdings ignorierte und mal eben das ganze
System auf den Kopf stellte. Ein großer Postfaktiker. Oder der unglaubliche Spinat,
hat zehnmal mehr Eisen als jedes andere Gemüse; ein Messfehler, wie wir heute
wissen. Zu meiner Kinderzeit war ich da schon postfaktisch, musste ihn aber
trotzdem essen.
Tatsachen sind mit Vorsicht zu genießen. Oft wissen wir
nicht, woher sie kommen, auf welchen Erkenntnissen sie basieren und, vor allem,
welchen Interessen sie dienen. In meiner Zeit als Journalist habe ich eingebläut
bekommen, das man nur dann eine Meldung bringen darf, wenn man mindestens zwei
unabhängige Quellen dazu gehört hat, nicht nur den Storch, auch den Frosch. Okay,
das ist heute etwas aus der Mode gekommen, meistens genügt jetzt schon eine
Quelle, die eine Quelle kennt, die etwas gehört hat. Jedenfalls, die
Quintessenz ist: traue nur den Tatsachen, die du selbst erlebt, entdeckt,
erfahren hast – z.B. den Schmerzen im Zeh, den du dir am Tischbein stößt. Alles
andere ist Hörensagen, das nur bis zum Beweis des Gegenteils gültig ist.
Tatsächlich(!) leben wir heute im globalen Meinungs-Krieg,
bei dem es letzlich um den Endsieg geht. Die Politik buhlt um Wähler, die
Industrie um die Politik, die Superreichen um beide und die Währung sind wir,
die (kleinen) Erdenbürger. Man füttert uns mit sorgsam ausgewählten ‚Fakten‘ um
uns zu Gläubigen zu machen. Man befreit die Wahrheit von allem Unangenehmen,
bis nur noch ein kleiner Teil übrig bleibt, der sich kaum noch von einer Lüge
unterscheidet. ‚Ohne Zuckerzusatz‘ bedeutet nicht, dass da nicht gesüßt wurde,
aber eben nicht mit Rohr- oder Rübenzucker. Solche Art Wahrheiten sind es, die
tagtäglich über uns ausgeschüttet werden.
Aber es gibt ja noch die Wissenschaft, die präsentiert
wenigstens objektive Fakten. Schön wär‘s. Heute, wo es kaum noch freie
Forschung gibt, auch nicht an Universitäten, folgen Wissenschaftler mehr oder
weniger offensichtlich dem alten Spruch: „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing!“
Die Industrie pumpt ihre Milliarden bestimmt nicht in Studien, damit die
hinterher belegen, wie nutzlos oder gar schädlich ihre Produkte sind. Mittlerweile
ist es weitaus interessanter, welche Experimente nicht gemacht, welche Fragen
nicht gestellt wurden, will man die neuesten Forschungsergebnisse richtig
verstehen.
Dann sind da noch die arg beschimpften sozialen Medien, die
sowieso nur Unsinn und Falschmeldungen verbreiten. Zumindest behaupten das die
konventionellen, ‚seriösen‘ Medien, wie Tageszeitungen und
Öffentlich-Rechtliche. Diese Behauptung, oft als Fakt verbreitet, übersteht
aber schon den ersten Praxis-Check nicht, denn warum sollten 2 Milliarden
Facebook-Nutzer einen kollektiven Ehrgeiz entwickeln, rund um die Uhr Fakes,
anstatt Katzenvideos, Sinnsprüche oder Fotos vom Urlaubsort zu posten. Sicher,
es gibt immer wieder Posts, die höchst kreativ mit der Wahrheit umgehen, aber
das haben Facebook und Co nicht exklusiv (Hitler-Tagebücher!).
„Wenn überhaupt irgendetwas ‚postfaktisch‘ im heute
gemeinten Sinne ist, dann der Begriff selbst.“ – (Michael
Schetsche: Telepolis).
Das bringt es auf den Punkt. ‚Postfaktisch‘ ist nur ein
weiteres Etikett, ähnlich wie ‚Gutmensch‘ oder ‚Fantast‘, das man jemandem
anheften kann, wenn einem selbst die Argumente ausgehen. Es hat zudem noch den
Vorteil, dass man nichts davon begründen muss, denn alles, was der so
titulierte noch sagt, ist nun automatisch Blödsinn. Billig und feige. Geht mir,
wie gesagt, tierisch auf die Nerven.