Dienstag, 13. Dezember 2016

Postfaktisch ist postfaktisch!


Mir geht dieses Wort richtig auf die Nerven. Was soll das sein? Okay, lateinisch: post=hinter/nach, factum=das Geschehene/Getane, könnte somit hinterm Geschehen (zurückgeblieben?) oder nach dem Getanen (Auspannen?) bedeuten. Benutzt wird es aber als Totschlagargument im Sinne von: ignorant oder sogar verlogen. Postfaktiker sind somit ahnungslose Spinner, die bewusst die, für alle anderen sichtbaren Tatsachen leugnen. Solche Leute kann man nicht ernst nehmen und schlimmstenfalls zerstören sie unsere Demokratie. Ist das so?

Was ist mit den Tatsachen? Existieren die schon seit dem Urknall (den es postfaktisch vielleicht gar nicht gab), und falls nicht, wo kommen sie her? Irgendjemand oder –etwas hat sie gemacht bzw. festgestellt (tun+Sache). Nun gibt es sie, aber sind sie deswegen auch a) richtig und b) wichtig? Zu Galileos Zeiten drehte sich die Sonne um die Erde, so sicher wie das Amen in der Kirche, eine Fakt, den er allerdings ignorierte und mal eben das ganze System auf den Kopf stellte. Ein großer Postfaktiker. Oder der unglaubliche Spinat, hat zehnmal mehr Eisen als jedes andere Gemüse; ein Messfehler, wie wir heute wissen. Zu meiner Kinderzeit war ich da schon postfaktisch, musste ihn aber trotzdem essen.
Tatsachen sind mit Vorsicht zu genießen. Oft wissen wir nicht, woher sie kommen, auf welchen Erkenntnissen sie basieren und, vor allem, welchen Interessen sie dienen. In meiner Zeit als Journalist habe ich eingebläut bekommen, das man nur dann eine Meldung bringen darf, wenn man mindestens zwei unabhängige Quellen dazu gehört hat, nicht nur den Storch, auch den Frosch. Okay, das ist heute etwas aus der Mode gekommen, meistens genügt jetzt schon eine Quelle, die eine Quelle kennt, die etwas gehört hat. Jedenfalls, die Quintessenz ist: traue nur den Tatsachen, die du selbst erlebt, entdeckt, erfahren hast – z.B. den Schmerzen im Zeh, den du dir am Tischbein stößt. Alles andere ist Hörensagen, das nur bis zum Beweis des Gegenteils gültig ist.
Tatsächlich(!) leben wir heute im globalen Meinungs-Krieg, bei dem es letzlich um den Endsieg geht. Die Politik buhlt um Wähler, die Industrie um die Politik, die Superreichen um beide und die Währung sind wir, die (kleinen) Erdenbürger. Man füttert uns mit sorgsam ausgewählten ‚Fakten‘ um uns zu Gläubigen zu machen. Man befreit die Wahrheit von allem Unangenehmen, bis nur noch ein kleiner Teil übrig bleibt, der sich kaum noch von einer Lüge unterscheidet. ‚Ohne Zuckerzusatz‘ bedeutet nicht, dass da nicht gesüßt wurde, aber eben nicht mit Rohr- oder Rübenzucker. Solche Art Wahrheiten sind es, die tagtäglich über uns ausgeschüttet werden.
Aber es gibt ja noch die Wissenschaft, die präsentiert wenigstens objektive Fakten. Schön wär‘s. Heute, wo es kaum noch freie Forschung gibt, auch nicht an Universitäten, folgen Wissenschaftler mehr oder weniger offensichtlich dem alten Spruch: „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing!“ Die Industrie pumpt ihre Milliarden bestimmt nicht in Studien, damit die hinterher belegen, wie nutzlos oder gar schädlich ihre Produkte sind. Mittlerweile ist es weitaus interessanter, welche Experimente nicht gemacht, welche Fragen nicht gestellt wurden, will man die neuesten Forschungsergebnisse richtig verstehen.
Dann sind da noch die arg beschimpften sozialen Medien, die sowieso nur Unsinn und Falschmeldungen verbreiten. Zumindest behaupten das die konventionellen, ‚seriösen‘ Medien, wie Tageszeitungen und Öffentlich-Rechtliche. Diese Behauptung, oft als Fakt verbreitet, übersteht aber schon den ersten Praxis-Check nicht, denn warum sollten 2 Milliarden Facebook-Nutzer einen kollektiven Ehrgeiz entwickeln, rund um die Uhr Fakes, anstatt Katzenvideos, Sinnsprüche oder Fotos vom Urlaubsort zu posten. Sicher, es gibt immer wieder Posts, die höchst kreativ mit der Wahrheit umgehen, aber das haben Facebook und Co nicht exklusiv (Hitler-Tagebücher!).
„Wenn überhaupt irgendetwas ‚postfaktisch‘ im heute gemeinten Sinne ist, dann der Begriff selbst.“ – (Michael Schetsche: Telepolis).
Das bringt es auf den Punkt. ‚Postfaktisch‘ ist nur ein weiteres Etikett, ähnlich wie ‚Gutmensch‘ oder ‚Fantast‘, das man jemandem anheften kann, wenn einem selbst die Argumente ausgehen. Es hat zudem noch den Vorteil, dass man nichts davon begründen muss, denn alles, was der so titulierte noch sagt, ist nun automatisch Blödsinn. Billig und feige. Geht mir, wie gesagt, tierisch auf die Nerven.